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  • Textbewegungen

    Wenn im Unterricht die Beschäftigung mit literarischen Werken ansteht, fällt mir auf, dass eine zu schnelle Thematisierung eines möglichen Aufgabenformates zwecks abschließender Testung thematisiert wird. Der Deutungsprozess gerät damit in den Hintergrund und kann nicht mit der Komplexität durchgeführt werden, die er bräuchte. Das liegt auch daran, dass in der Vorbereitung von Deutungsprozessen Unklarheit darüber herrscht, auf welcher Deutungsebene Interpretationsvorgänge stattfinden sollen. Um hier eine Hilfe zu geben, schlage ich das folgende Modell vor. Es soll bei der Planung von Literaturunterricht Klarheit geben, auf welcher Ebene der Textbewegung planerische Entscheidungen stattfinden.

    Ich nenne es „Textbewegungen“, weil es davon ausgeht, dass für einen schüler:innennahen Interpretationsprozess Bewegungen zum Text und Bewegungen weg vom Text hin zu Thema, Wir (in dem Fall die Lerngruppe) oder Ich (Lesende:r) stattfinden und sich gegenseitig ergänzen.

    Dabei ist hilfreich für jeweils beiden Richtungen mit den Begriffen Variable und Konstante zu arbeiten: Wenn man das Verhältnis von Text und Thema betrachtet, kann z.B. die Frage gestellt werden, welche thematischen Aspekte der Text anbietet (Text konstant, Thema variabel) oder man untersucht, wie sich die Deutung des Textes unter bestimmten thematischen Zugriffen ändert (Thema konstant vorgeben, Text variabel). [4]

    Im Fachseminar haben wir diskutiert, welche Methoden und welche fachdidaktischen Zugänge an den jeweiligen Bewegungen andocken können. Ich deute die Ergebnisse dieser Diskussion hier kurz an:

    Ich und Text

    Die Bewegungen:

    Hinweg (Text stabil, Ich variabel): Welche Fragen, Emotionen, Irritationen löst der Text in mir aus? Das entspricht quasi dem ersten intuitiven Kontakt. Mit diesen Fragen ist es dann möglich, in die Reflexion darüber zu kommen, welche Werte, eigenen Erfahrungen und Haltungen eigentlich für meine Reaktion relevant waren.

    Rückweg (Ich konstant, Text variabel): Damit ist es möglich Fragen an den Text zu formulieren, mit denen sich Deutungen vom Text ändern oder vertiefen lassen. Diese Fragen sind dabei abhängig von den individuellen Werten, Haltungen, Erfahrungen, kurz: Realitätsfolien, die über den Text bei der Deutung gelegt werden.

    Auf der Ebene „Text und Ich“ steht die persönliche Auseinandersetzung mit dem Text im Vordergrund. Fachdidaktisch können hier z.B. die literaturdidaktischen Überlegungen von Spinner [1] angedockt werden, bei denen die Arbeit mit literarischen Texten eng an die Identitätsbildung gebunden ist (Text –> Ich).

    Die produktiven Verfahren von Waldmann [2] können dagegen für die Gegenrichtung konstruktiv genutzt werden. So können z.B. parallele Lückengedichte, die aus der Vorerfahrung der Schüler:innen heraus vor der Lektüre eines Textes gefüllt werden, schülereigen Texte erzeugen, die die dividiuellen [3] Werte, Haltungen und Erfahrungen aktualisieren. Formal gebundene Differenzerfahrungen zwischen Textaussage und eigener Position beim Lesen werden für die Schüler:innen so sichtbar und für Diskussionen nutzbar.

    Auch die QFT-Methode kann im Kombination mit diskontinuierlichem Lesen Fragen an den Text entwickeln, die für die Weiterarbeit unter Berücksichtigung persönlicher Interessen genutzt werden können. Wenn die Fragen dabei zunächst in Einzelarbeit gesammelt und dann kooperativ zusammengetragen werden, werden auch an den unterschiedlichen Fragen unterschiedliche Interessenlagen für die Schüler:innen erfahrbar. Gleichzeitig findet hier der Kontakt mit anderen, nicht-eigenen Interessen statt (Übergang: ICH <–> WIR)

    Verfahren der szenischen Interpretation bedienen unter Umständen beide Richtungen dieser Textbewegung: Die Inszenierungen in Standbildern, kurzen Dialogen oder Improvisationen auf Grundlage einer Interpretation machen auch gleichzeitig die jeweils ganz persönlichen Zugänge zum Text deutlich.

    Text und Thema

    Hinweg: (Text stabil, Thema variabel)

    [1] hierzu siehe z.B. Spinner, Kasper H.: Kreativer Deutschunterricht. Identität – Imagination – Kognition, 6. Auflage, Seelze 2018.

    [2] z.B.: Waldmann, Günther: Produktiver Umgang mit Lyrik. Produktiver Umgang mit Lyrik. Eine systematische Einführung in die Lyrik, ihre produktive Erfahrung und ihr Schreiben. Für Schule (Primar- und Sekundarstufe) und Hochschule sowie zum Selbststudium. 16. Auflage, Bielefeld 2021.

    [3] Da Dadaismuswellen

    [4] Das ist eine natürlich eine absolute Vereinfachung. Konstanz bei der Lektüre von Literatur vorauszusetzen, ist fern ab jeder Realität. – Aber: Es ist ein Modell. Ein Modell reduziert. Die Frage, die mir sich stellt: Ist diese Reduktion hier eine, die Hilfe für den Planungsprozess bringen kann?